
Der Frührentner Erwin Hundmeier weiß, was um ihn herum passiert. Das weiß er vor allem, weil er den Überblick hat. Von seinem Wohnzimmer aus im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses kann er ganz genau beobachten, was auf der Straße unter ihm los ist. Und da ist viel los, es ist nämlich eine der Haupteinkaufsstraßen des Ortes. Und der Ort, in dem Hundmeier lebt, ist nicht klein. Aus dem gesamten Umland kommen die Menschen, vor allem natürlich an den Wochenenden, um in dieser Geschäftsgegend einzukaufen; oder wie es neudeutsch heißt: um zu shoppen.
Erwin Hundmeier mag vor allem die verkaufsoffenen Sonntage vor Weihnachten besonders gern. Das geschäftige Treiben; die einzelnen, wild umherwuselnden Menschen, die sich durch die beinahe starren Massen winden; die festliche Beleuchtung, die von den Geschäftsinhabern rundherum organisiert wurden – es erinnert ihn an andere Zeiten. An bessere Zeiten, als ihn seine Frau Gudrun noch nicht verlassen hatte, als sie noch nicht an der Perspektivlosigkeit ihres Lebens zerbrochen war, an der sie ihm die Schuld gab. An Zeiten, als er noch nicht Trost suchte im Alkohol, als er noch nicht fehlende Wärme kompensieren musste durch immer billiger werdenden Fusel, weil auch das Geld schon lange nicht mehr reichte. Was sollte er aber auch sonst machen, den ganzen Tag? Es bleibt ihm nicht mehr viel, weder vom Leben, noch von dessen Qualität.
Erwin Hundmeier ist einsam, aber der Blick auf die Menschen verschafft ihm Kontrolle. Solange er nur weiß, was um ihn herum passiert, solange hat er auch das Gefühl, dass ihm das Leben nicht vollends entglitten ist. Die erhabene Position, der Überblick über das, was die Masse da unten nicht sehen kann, das hat nur er. Weil er aufpasst und da ist. Auch wenn ihn niemand zu brauchen scheint.
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